Ärgerlich – der Flug verspätet sich
Fast jeder, der öfters fliegt, hat es schon einmal erlebt: Der Flug hat Verspätung. Zuerst heißt es, der Abflug würde sich nur leicht verzögern, dann sind es bereits ein bis zwei Stunden, und schließlich wird man – erschöpft und entnervt – nach mehreren Stunden zum Gate gebeten, wo man letztendlich noch einmal rund eine Stunde auf den Einstieg warten darf. Das frustriert, insbesondere, wenn das Airline-Personal – sofern ein solches am Flughafen überhaupt anwesend ist – keine genauen Angaben zum Grund und zur tatsächlichen Dauer der Verzögerung machen kann oder will.
Was 90 Prozent aller Passagiere nicht wissen – Geldausgleich von bis zu EUR 600,00
Worüber die Passagiere zumeist im Dunklen gehalten werden und was nach kolportierten Zahlen 90 (!) Prozent aller Fluggäste nicht wissen, ist, dass ihnen bereits im Falle einer Verzögerung ab drei Stunden auch ein (verschuldensunabhängiger) Ausgleichsanspruch in Höhe von bis zu EUR 600,00 zusteht.
Ausgangspunkt dafür ist die sog. „Fluggastrechte-Verordnung“ („FG-VO“)1, die als EU-Verordnung keiner weiteren Umsetzung ins nationale Recht bedarf und damit für die Mitgliedstaaten der EU unmittelbar anwendbar ist. Gem. ihrem Art. 3 Abs. 1 gilt die FG-VO
- bei Flügen, die in der EU angetreten werden und
- bei Flügen, die von einem Drittstaat in die EU angetreten werden, sofern die Fluggesellschaft in der EU einen Sitz hat.
Die FG-VO gilt auch in den anderen Ländern des Europäischen Wirtschaftsraums (Island, Liechtenstein, Norwegen) und aufgrund eines bilateralen Abkommens auch für Flüge zwischen der EU und der Schweiz. Ob die FG-VO auch für Flüge aus der Schweiz in ein Land außerhalb der EU gilt, ist strittig.2
Bei Flugverspätungen ab drei Stunden steht den Passagieren ein Ausgleichsanspruch in Geld zu, dessen Höhe sich nach Entfernung und Flugstrecke, nicht aber nach der Länge der Verspätung richtet.3 Bei der Berechnung der Verspätungszeit kommt es auf die Ankunftszeit am Endzielort an, wobei nicht der Zeitpunkt des Aufsetzens des Flugzeugs, sondern jener, zu dem „mindestens eine der Flugzeugtüren geöffnet wird, sofern den Fluggästen in diesem Moment das Verlassen des Flugzeugs gestattet ist“, ausschlaggebend ist.4
Gem. Art 7 Abs. 1 FG-VO beträgt der Ausgleichsanspruch
- EUR 250,00 für Flüge ≤ 1.500 km
- EUR 400,00 für Flüge
- innerhalb der EU > 1.500 km sowie
- bei allen anderen Flügen > 1.500 km und < 3.500 km
- EUR 600,00 bei allen anderen Flügen.5
Der Ausgleichsanspruch ist durch Barzahlung, Banküberweisung oder Scheck zu leisten. Einen Reisegutschein muss der Fluggast nur dann akzeptieren, wenn er diesem schriftlich zustimmt.
Mahlzeiten und Getränke
Daneben stehen den Passagieren abhängig von der Entfernung, Flugdauer und der Dauer der Verspätung gem. Art. 6 Abs. 1 FG-VO die folgenden Unterstützungsleistungen zu:
- Mahlzeiten und Erfrischungen in angemessenem Verhältnis zur Wartezeit
- zwei unentgeltliche
- Telefongespräche oder
- Telexe oder
- Telefaxe oder
- E-Mails
- unter gewissen Umständen
- eine Hotelunterbringung inklusive Beförderung zwischen dem Flughafen und dem Ort der Unterbringung
- vollständige Erstattung der Kosten des Flugtickets ggbfls. in Verbindung mit einem Rückflug zum ersten Abflugort zum frühestmöglichen Zeitpunkt
Zermürbungstaktik der Fluglinien – EUR 750 Millionen an Anspruchsvolumen
Dass der Ausgleichsanspruch bei Flugverspätungen derart unbekannt ist, liegt zunächst daran, dass die FG-VO einen solchen gar nicht ausdrücklich für Flugverspätungen, sondern vielmehr nur für die Fälle der Nichtbeförderung (Art. 4 Abs. 3) und der Annullierung (Art. 5 Abs. 1 lit. c)) formuliert. Erst der EuGH stellte im Jahr 2009 klar, dass der Ausgleichsanspruch auch bei Flugverspätungen ab drei Stunden zusteht.6
Aber es sind vor allem auch die Fluglinien, die versuchen, sich mit diversen zweifelhaften Maßnahmen ihren Zahlungsverpflichtungen zu entziehen: Das beginnt in der Regel schon damit, dass die Passagiere im Falle einer Flugverspätung über ihre Rechte gar nicht informiert werden. Verlangt man am Flughafen ein Informationsblatt, erntet man zumeist nur böse Blicke des Airline-Personals und einen Verweis auf die „Consumer-Hotline“. Die Geltendmachung seiner Ansprüche auf telefonischem Wege kann man jedoch vergessen: Einen Verantwortlichen ans Telefon zu bekommen schafft man oftmals nur nach tagelangem Bemühen und mit entsprechendem Nachdruck. Zahlungszusagen bleiben unerfüllt, Rückrufersuchen werden ignoriert. Viele Airlines bieten mittlerweile auf ihren Websites diverse Formulare an, mit denen die Fluggäste ihre Ansprüche geltend machen sollen. Doch auch hier ist das Problem, dass Monate vergehen, bis man überhaupt eine Nachricht von der Fluglinie erhält. Glaubt man, dass einem sodann beschrieben wird, wie man zu seinem Geld kommt, wird man wiederum enttäuscht: Anstatt der Anfrage nach der Bankverbindung erhält man die Aufforderung, zusätzliche Formulare auszufüllen oder weitere Daten bekannt zu geben. Das gleiche geschieht, wenn man versucht, seine Ansprüche auf dem Postweg oder per E-Mail geltend zu machen. Diese Zermürbungstaktik ist von den Fluglinien bewusst gewählt und zielt in erster Linie darauf ab, den Passagier zu entmutigen, seinen Anspruch weiter zu verfolgen. Jedenfalls wird es sich der Fluggast nach einer derartigen Odyssee bei der nächsten Flugverspätung zweimal überlegen, bevor er erneut einen derartigen Anspruch geltend machen will. Auch das ist gewollt. Dadurch ersparen sich die Fluglinien eine Menge Geld: Nach kolportierten Zahlen könnte jedes Jahr ein Anspruchsvolumen von EUR 750 Millionen eingeklagt werden.
Fazit – nur die Einschaltung eines Rechtsanwaltes hilft
Tatsächlich hilft nur, so früh wie möglich einen Rechtsanwalt einzuschalten, der die Ausgleichsansprüche mit anwaltlichem Forderungsschreiben geltend macht und im Falle der weiteren Zahlungsverzögerung eine (europäische) Mahnklage einbringt. Das (europäische) Mahnverfahren ist ein vereinfachtes und beschleunigtes Verfahren für die Betreibung bezifferter und unbestrittener Geldforderungen, mit welchem relativ schnell ein (europäischer) Zahlungsbefehl erhalten werden kann, der gegen die Fluglinie vollstreckbar ist. Zudem sind bei Flugverspätungen die Fälle zumeist relativ eindeutig, sodass für den Fluggast bei einer Klagsführung kein besonders hohes Prozess(kosten)risiko besteht.
Thomas Kainz
Dr. Thomas Kainz, LL.M. (London) ist Rechtsanwalt und Gründungspartner von LEGAL CHAMBERS Kainz, Rechtsanwalt Dr. Thomas Kainz, LL.M. (London), und u.a. auf die Geltendmachung von Ausgleichs- und Schadenersatzansprüchen wegen Flugverspätungen spezialisiert.
1 VERORDNUNG (EG) Nr. 261/2004 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91, abrufbar hier.
2 Anm.: Mit Beschluss vom 9.4.2013 (Az. X ZR 105/12) hat der deutsche BGH dem EuGH diese Frage gem. Art. 267 AEUV zur Auslegung des Unionsrechts vorgelegt. Das Zivilgericht Basel-Stadt vertrat in den Entscheiden vom 11.3.2011 (V.2010.1734) und 15.5.2012 (V.2012.213) die Ansicht, dass in diesem Fall die FG-VO nicht anwendbar sei (aA Bundesamt für Zivilluftfahrt (Schweiz)).
3 Anm.: Bei einer Verspätung von drei Stunden steht einem sohin derselbe Ausgleichsanspruch zu, wie bei einer solchen von fünf Stunden.
4 EuGH 4.9.2014, C‑452/13.
5 Art. 7 Abs. 1 FG-VO.
6 EuGH 19.11.2009, C-402/07 und C-432/07.